Auf Einladung des Sonderforschungsbereichs „Affected Societies“ an der FU Berlin hielt Dr. Steffi de Jong im Rahmen der Vortragsreihe „Affective Publics“ am 15. April 2021 einen Vortrag über den Einsatz von Virtual Reality. Der Vortrag war mit über 50 Zuhörer(inne)n gut besucht. Steffi de Jong berichtete aus ihrem Grimme-Forschungskolleg-Projekt und sprach über „Witness Auschwitz? How VR is changing Holocaust memory”.
Mit dem Ende der Ära der Zeitzeug(inn)en stellt sich für die Holocaust-Gedenkkultur die immer brennendere Frage, wie das kollektive Gedächtnis auf das Verschwinden einer der zentralen Instanzen zum Verständnis des Holocaust reagieren soll. Die Diskussion wird begleitet von Befürchtungen und Zweifeln, dass die schriftlichen, filmischen und fotografischen Zeugnisse der Überlebenden und der unaufhaltsame Verfall ihrer Hinterlassenschaften allein nicht mehr genügen könnten, um das historische Geschehen den nachfolgenden Generationen zu vermitteln. Die Angst vor dem Verlust von Originalität und Authentizität sowie die Befürchtung, mit dem Ende der Zeitzeugen auch die emotionale und intellektuelle Verbindung zu den Ereignissen und eine zentrale Deutungsinstanz zu verlieren, schwingen darin mit.
Steffi de Jong ging in ihrem Vortrag auf diese Problematik ein und fragte danach, wie Virtual Reality (VR) die Vorstellung davon verändern, was es bedeutet, eine Zeugin bzw. ein Zeuge zu sein? Denn am Anfang der digitalen körperlichen und affektiven Phase des Holocaust-Gedenkens ermöglichen es immersive Technologien, entweder in digitale Rekonstruktionen eines historischen Raums einzutauchen oder sogar in den Körper einer historischen Person hineinzuschlüpfen. Die audiovisuellen Medien simulieren dabei primäre Zeitzeugenschaft, in dem sie ihre Nutzer(innen) in eine eher „harmlose“ fotorealistische Umgebung einer Lagerlandschaft eintauchen lassen oder sie die Erfahrungen eines Opfers durchleben lassen. Die diesem Gedenken zugrundeliegende Idee ist die der „Empathie-Maschine“. Steffi de Jong konkretisiert diese Idee anhand zahlreicher Beispiele und geht auf die Problematik dieser Form des Gedenkens ein. VR könne zu dunklen Nostalgie führen, die Gruseleffekte und Unterhaltungswert in den Vordergrund rückt, aber auch dazu, den eigenen Gefühlen mehr Raum zu geben als dem Leid der Dagewesenen. Überdies könne eine photorealistische Darstellung in VR zu Missverständnissen über die historischen Ereignisse und die eigenen Wissenslücken führen. Eine alternative Konzeption von Empathie, so de Jong, könne aber – auf intellektueller Ebene – auch die Distanz wahrnehmbar werden lassen, die uns heute von den Dagewesenen und diesen unmenschlichen Zuständen in den Lagern trennt und sich auf die Verständnislücken zwischen dem „Ich“ und den „Anderen“ beziehen.
In der anschließenden Diskussion wurde darauf verwiesen, dass starke realistische Erlebnisse, wie sie in nicht allzu ferner Zukunft durch technologische Entwicklungen möglich würden, zu psychischen Störungen wie PTSD führen könnten. Einerseits wurde angemerkt, dass VR eine Möglichkeit sein könne, der Holocaust-Leugnung zu begegnen, andererseits wurde die Befürchtung geäußert, dass durch VR das Risiko bestehe, „Authentizität“ in Frage zu stellen. Könne man „Authentizität“ simulieren? Wenn Auschwitz simuliert werden könne, habe es vielleicht nie stattgefunden?
Es bleibt abzuwarten, ob die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Holocaust oder ergänzende immersive Technologien zu einem besseren und nachhaltigeren Verstehen führen werden? Und es bleibt die Frage, welchen Erkenntniswert Simulationen haben können?
Dr. Steffi de Jong ist Autorin des Buches „The Witness as Object. Video Testimony in Memorial Museums“ (erschienen 2018 bei berghahn books) und forscht am Historischen Institut der Universität zu Köln zur Geschichte des Re-enactments, der Funktion von Zeitzeugenschaft und zum Verhältnis von neuen Medien und Erinnerung. Sie wird als Ergebnis ihres Projekts im Rahmen des Grimme-Forschungskollegs einen Aufsatz publizieren.